„Zerrissen“

Hungertuch 2023 / St. Anna-Kirche

Unser Hungertuch ist 3,30 m breit und 4,70 m hoch. Von Aschermittwoch bis Karsamstag hängt es in unserer Kirche.

Ostergarten mit der Stele der Künstlerin Margit Unterthiner

Der Riss im Tuch entstand am 24. Februar 2022. An diesem Tag waren russische Panzer auf ukrainisches Staatsgebiet vorgerückt. Mit aller Wut, mit allem Entsetzen, mit aller Trauer über den Kriegsbeginn wurde dieser Stoff zerrissen.

Damals – vor einem Jahr – ist kurzfristig gemeinsam entschieden worden, auf ein geplantes, neues Hungertuch zu verzichten und auf das Friedensbanner aus dem Jahr 2020 zurückzugreifen.
Ein Zitat von Mahatma Gandhi war dort zu lesen:

„Es gibt keinen Weg zum Frieden, Frieden ist der Weg“

Jugendliche aus Chemnitz hatten es gestaltet.

In diesem Jahr sehen wir nun „den Riss“, nutzen ihn als Motiv für unser Hungertuch.

Das erinnert zunächst daran wie der Evangelist Matthäus die Todesszene Jesu schildert: „Um die neunte Stunde schrie Jesus mit lauter Stimme: Eli, Eli, lema sabachtani?, das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? … Jesus aber schrie noch einmal mit lauter Stimme. Dann hauchte er den Geist aus. Und siehe, der Vorhang riss im Tempel von oben bis unten entzwei. Die Erde bebte und die Felsen spalteten sich.“

Jesus zitiert am Kreuz den 22. Psalm, ein Psalm der Klage, des „Warums“, aber auch ein Psalm des Vertrauens: „Er hat gehört, als ich zu ihm schrie“, ist sich der Psalmbeter am Ende sicher.

Aber hört Gott wirklich all die Schreie?
Hungertuch mit Lichtreflexion

Als am 06. Februar die Erde im Grenzgebiet der Türkei und Syriens bebte und die ersten Bilder das Ausmaß der Katastrophe erahnen ließen, brach es aus vielen von uns heraus: Mein Gott! Seither zerreißen die Bilder des Leids unsere Herzen, und darum zerreißt der Riss auf unserem Hungertuch auch das „Mein“.

Und gleichzeitig zerreißt der Riss auch „Gott“, denn dieses Leid kann Gott nicht unberührt lassen.

Das Wort Gott mit schwarzen Fäden gestickt

Die Worte wurden mit einem schwarzen Papiergarn per Hand auf den Stoff des Hungertuchs gestickt: Fäden als Zeichen für Verbindung, Verknüpfung, Beziehung. Außerdem wurden im oberen Bereich des Tuches – mit einem weißen Garn zu beiden Seiten des Risses – Fäden wie Linien eingewebt: Linien für die unzähligen Geschichten von Zerrissenheit, von Spaltung, Verletzung, von Trauer, die dieses Leben schreibt, die uns im Leben begegnen, die wir selbst durchleben.

Goldenes Garn heilt den Riss

Aber gleichzeitig beginnt dort auch – von oben her, ganz langsam – ein Geflecht aus feinsten goldenen, göttlichen Fäden, den Riss zu heilen. Das sagt: Dieser Riss wird zwar nie verschwinden, er wird immer – wie eine Narbe – sichtbar bleiben, aber kein Graben muss abgrundtief bleiben. Ausdruck unserer Hoffnung gerade in diesen Tagen.

Die Dichterin Mascha Kaleko schrieb einmal: „Die Nacht, in der das Fürchten wohnt, hat auch die Sterne und den Mond.“

Halten wir also in dieser Fastenzeit hoffend Ausschau, ändern wir unseren Blickwinkel, sehen wir nicht nur auf die Wunden dieser Welt, sondern suchen wir auch nach goldenen Fäden des Zusammenhalts, nach einem Schimmer von Licht und versuchen wir all den bohrenden Fragen nach dem „Warum“ in uns standzuhalten.